Monatsgeschichte für den Monat August 2017

Eberhard
Eine Kurzgeschichte von Andreas Erdmann

Eberhard sprang von der Feuerleiter. Er sprang oder– nein, neinein, er sprang nicht. Er schwang nach vorne und schwankte und wankte gefährlich, schwenkte herum und hangelte sich zwei- vier, fünf weitere Sprossen empor.

– Eberhard!? riefst du hinauf.

– Lass mich in Ruhe! rief er herunter.

– Eberhard, bitte, steig von der Leiter! tratest du vor, griffst nach dem Handlauf und setztest den Fuß auf die unterste Sprosse.

– Heee! schrie der Junge von oben herab: Bleib, wo du bist! Oder ich springe– ich spring auf der Stelle!

Da hieltest du inne. Und er stieg weiter, er stieg und stieg, erstieg Sprosse um Sprosse, bewegte sich höher und höher über dem Schulhof und über den Häuptern der hier versammelten, völlig entsetzten Schüler und Lehrer.

Eberhard also. Der dicke Eberhard, von dem es im Unterricht immer geheißen hatte, dass er nichts begreife. Nichts könne. Nichts sei. Nichts. Nichts weiter als nur ein Dummkopf. Der dumme Eberhard also, der stieg an diesem Morgen am Schulgebäude hinauf, gelangte bald über die Regenrinne und über die Dachkante hinaus – und er stieg bis zum Ende der Leiter vor, die in luftiger Höhe über dem Dach in einen tiefblauen Himmel aufragte. Dort erst, am äußersten Ende der Leiter kam er zum Stehen. Dort stand er: hoch droben, im flimmernden Licht einer flammenden Sonne, die eben über der Schule aufstrahlte. Droben stand Eberhard, über der Sonne – über dem gleißenden Stern.

– Eberhard, neeein! riefst du mit gellender Stimme.

– Eberhard Hermanns! rief hinter dir, in deinem Rücken lauthals der Direktor der Schule: Spring nicht da runter! Denn- sieh einmal, wenn du springst, bringst du unser Gymnasium in Verruf!

– Und- hör mal! tönte der Klassenlehrer: Wenn du die Leiter vorsichtig wieder heruntersteigst, helfen wir dir und finden für dich sicherlich, sicher noch einen Ausweg.

– Aber ja- jaja, dann wollen wir dein Fünferl im Sport vergessen, fügte der Sportlehrer hinzu, und du bekommst, dies verspreche ich dir, auf deinem Zeugnis ein Viererl von mir – und bleibst nicht sitzen und musst das Schuljahr nicht wiederholen.

– Und wir können uns den Blauen Brief an deine Eltern ersparen! heischte die Sekretärin der Schule dazwischen. Und Schulkameraden beschwichtigten: Also, freue dich, Eberhard, freue dich!

– Aber nein, ich freue mich nicht! rief der Junge zurück. Und ein Raunen ging durch die Menge, als er sich ruckartig reckte und einen Arm über dem Schulhof ausstreckte. Unbewegt stand er da, bevor er mit seiner Rede anhob: O ihr Lehrer und Schüler! erschallte jetzt seine Stimme hoch oben, in luftiger Höhe dort droben zwischen Himmel und Erde: Seht nur, es macht ja gar keinen Unterschied, ob ich springe oder nicht. Denn ich– ich bin doch schon lange tot. Ja, ich bin tot. Ich lebe nicht, lebe nicht wirklich. Habe seit Jahren, seit wie vielen Jahren nicht wirklich gelebt. Tja, früher als kleines Kind, bevor ich diese Schule besuchte, da fühlte ich mich lebendig und hatte wohl meine Freude am Leben. Aber dann– irgendwann– nach der Einschulung starb ich nurmehr vor mich hin. Ich vegetierte nur noch nach dem Stundenplan und fiel Tag für Tag eurem Lehrplan zum Opfer, Woche für Woche und Jahr um Jahr eurem tödlichen Trott. So starb ich in meiner Schulbank dahin, ich starb still und stumm – und starb mitten unter euch, ohne dass ihr es jemals bemerktet. Seitdem bin ich tot. Unwiderruflich tot, tot. Tot.

Menschenskind! war daraufhin der Direktor der Schule zu hören: Was willst du denn nur?!

– Willst du ein paar Tage schulfrei!? brüllte der Klassenlehrer.

– Du möchtest doch sicher ein Viererl im Sport?

– Oder ein Dreierl, ein Dreierl in Biologie!?

– O nein, ich will leben! so schrie der Junge vom Ende der Leiter: Leben will ich, nur leeeben! schrie er: Leeeeeben!!! erschallte weithin das Echo, und Eberhard warf seine Arme zum Himmel, schwang sich nach vorne und sprang.