Monatsgeschichte für den Juni 2017

Meine Ginger

Was sie noch zu sagen hätte … ich stand vor dem großen Antik-Spiegel und kontrollierte den Sitz meiner blau-weißen Krawatte, als Ginger von hinten rechts auf mich zukam. Sie gab mir einen Klaps auf den Allerwertesten, so dass ich gegen den Spiegel prallte, welcher in viele kleine Scherben zersprang.

„Geht’s noch?“ schrie ich sie so laut an, dass sie eingeschüchtert zurücktrat – durch ihr Gesicht, sonst starr wie eine Maske, huschte ein bisschen Furcht. Sie antwortete nicht, sondern drehte sich gleich um, rannte ins Wohnzimmer und warf sich auf die rote Ledercouch. Dann sang sie die Internationale, dieses Lied der Kommunisten, was ich schon immer so komisch und dumm fand. Sie sang dieses Lied dermaßen laut, dass ich, der ich einmal zu dieser politischen Gruppe gehört hatte, die Ohren mit Papiertaschentüchern zustopfte. Ich rannte in die Küche, in der wie meistens Unordnung herrschte, um mit einem der probaten langen Messer im Wohnzimmer auf meine „alte Liebe“ zu treffen, die sich mittlerweile auf der braunen Ledercouch wie eine lange, rote Weihnachtskerze ausstreckte.

„Ich bin jedenfalls nicht mehr so ein Politiot … aber bei Dir hält sich dieses Gedankengut immer noch, kapierst Du das nicht?!“ tönte Ginger, die mich auch noch hämisch angrinste. Natürlich kochte ich vor Wut, am liebsten hätte ich sie jetzt abgestochen, auch zu gern tot geprügelt, aber ich hatte prinzipiell jeder Gewalt abgeschworen. Der große Mahatma hatte mich voll im Griff. Mit diesem Messer in der Hand kam ich mir daher äußerst selbstverräterisch vor! Die Zeit meiner terroristischen Aktivitäten war längst vorüber. Gewalt geschah seit vielen Jahren lediglich im Rahmen von Computerspielen in meinem Kopf.

„Ich werde …!“ drohte ich, doch Ginger schloss die Augen und summte nun die Internationale.

„Du wirst gar nichts, Du Memme!“

„Wenn Du so weiter provozierst, werde ich bestimmt noch …!“ entgegnete ich Ginger. Sie lachte. Und lachte.

Ich rannte zu dem zersprungenen Spiegel. Dann sammelte ich einige Scherben, um sie gleich danach Ginger auf den Bauch zu werfen. Die ach so feine, immer wieder feist klügelnde mittelalterliche Dame schoss auf. Sie trat mir in den Unterleib. Als ich in die Knie gegangen war, trat sie mir von hinten in den Rücken, so dass ich vornüber auf den Teppichboden knallte.

„Spinnst Du, … Irr … rre!?“ entfuhr es mir im Schmerz.

„Ja!“ entgegnete sie. Ginger war wieder „Herrin“ der Lage. Ihre Arroganz mir gegenüber kannte keine Grenzen.

Längst bestand unsere Beziehung hauptsächlich aus Spielen der Macht – bis zur Unterwerfung des einen unter den anderen. Meist war ich ihr Opfer!

© Kay Ganahl

Veröffentlicht in „Wurzel“, Selbstverlag 2016, PDF auf CD-Rom


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