Monatsgeschichte für den Monat März 2018

Im Exil

Eine Kurzgeschichte von Andreas Erdmann.

Berlin im kalten Dezember 1976. Frühmorgens, um Viertel vor Fünf, verlassen drei Menschen im Ostteil der Stadt ihre Wohnung: Der Lyriker Thomas Brasch, seine Lebensgefährtin, die Schauspielerin Katharina Thalbach und die kleine Anna hasten im langen Schatten der Mauer zum Bahnhof Friedrichstraße: „Ist es wahr?“, will der Grenzbeamte der DDR von Thomas wissen, „Genosse Honecker hat Sie persönlich verabschiedet?“  – „Ja, und zwar mit Respekt und mit Handschlag.“ – „D… Dann, auf Wiedersehen!“, stammelt der Volkspolizist und lässt sie passieren. Sie kommen zum Bahnsteig. Sie steigen ein in die erste S- Bahn des Tages, sitzen und warten. Da! der Wagen ruckt an, und sie fahren über die Mauer hinweg von Deutschland nach Deutschland.

Gegen halb Sechs trafen die Drei, mit ihren wenigen Habseligkeiten, am Bahnhof Zoo in Westberlin ein. Ein Reporter trat auf sie zu: „Also wurden, nach Biermann, auch Sie ausgebürgert?“ Nein, gab Thomas, im Laufschritt, zur Antwort, die Behörden hätten ihnen endlich den Ausreiseantrag bewilligt. „So sind Sie freiwillig hier im Exil?“
Thomas blieb stehen und sah den Mann an: „Jeder Mensch lebt im Exil“, sprach er, mit zitternder Stimme. „Ein jeder von uns, hier wie jenseits der Grenze, ist heimatvertrieben, verjagt aus dem Land seines Herzens.“
„Hallo, ihr Lieben!“, vernahmen sie mit einem Mal einen Ruf aus dem Halbdunkel: „Willkommen im Westen!“ Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius kam ihnen auf der Treppe entgegen. Befreites Lachen. Umarmungen. Küsse. Delius trug den Koffer zum Auto. Dann fuhr er Kathi und Anna zu ihren Verwandten nach Tegel. Thomas nahm er in seine Wohnung mit.
Nach dem ersten Schluck Kaffee sprang Thomas auf, wollte telefonieren. „Wen willst’ n anrufen?“ – „Den Jörg Mettke vom ‚Spiegel’, Herrn Schneider und… all meine Freunde im Westen.“  – „Aber Thomas! Die schlafen noch um diese Zeit.“ – „Ja, und?“, lachte er und griff schon zum Hörer, „dann werd ich sie wecken!

Ein paar Wochen später lebte Thomas mit Kathi und Anna in einer eigenen Wohnung. Dort empfing er den westdeutschen Autor Georg Stefan Troller, begleitet von einem Kameramann, Carl Friedrich Hutterer. Sie planten einen Fernsehbericht über den Ex- DDR- Dichter.
„Sehn Sie sich um! Ich brauche nicht viel, weder Schränke noch Heimat“, grinste der Literat. Er führte sie durch die halbleeren, mit spärlichen Möbeln und Kisten eingerichteten Zimmer. „Ich wohne ja in den Räumen der Sprache.“

Troller und Hutterer saßen wartend auf wackligen Stühlen. Thomas ging auf dem Flur auf und ab. Telefonierte mit Theaterregisseur Bondy. Führte dann ein Gespräch mit Katharina, flüsternd im Nebenraum. Endlich kam er zu ihnen, reichte Kaffee, ließ sich bei ihnen nieder.
Viel besser als in der DDR, erklärte er, fühle er sich in der BRD nicht. „Da komme ich aus einem Land, das seine Schmerzen durch Ideologie nicht zu lösen versteht, und lande in einem anderen, das sie durch Geld auch nicht löst.“
Troller verwies auf die Unterschiede.
„Allerdings, die sind krass! Andererseits… Ob ich durch West- oder Ostberlin gehe, erlebe ich hier wie dort Menschen an Orten, die, wie schon Brecht sagte, eigentlich nicht bewohnbar sind“, sagte Thomas und senkte den Blick. „Wohnsilos, Kaufhäuser, Fluchten von Straßen… Stätten, an denen der Mensch sich verliert und sich letztlich nur noch an seiner Arbeit festklammert. Und in diesem Punkt“, er blickte auf, „bin auch ich angeschlagen.“
„Sie arbeiten wieder?“ fragte ihn Troller. -„Ja, ich hab mit der Arbeit an meinem ersten westdeutschen Gedichtband begonnen.“  Wie viele Gedichte er denn schon hier geschrieben habe? „Im Westen?“, meinte er, etwas verlegen, „ehrlich gesagt, noch kein einziges. Es ist seltsam, ich konnte bislang hier nicht schreiben.“ Wie gehe das zu, ein Gedichtband ohne Gedichte? „Nun, es wird es eine Sammlung mit früheren Texten, die ich überarbeite…“ Thomas erhob sich und trat an die Fensterbank, nahm seinen Fotoapparat in die Hand und erklärte: „Sehen Sie, dazu schieße ich Fotos. So mache ich erst mal Bilder statt Worte. In Worte kann ich das, was ich im Westen erfahre, bislang nicht fassen. Es ist unbeschreiblich.“

Klack! Klack! Klack! – Thomas stand auf dem Kurfürstendamm und fotografierte Fassaden von Kaufhäusern, Schaufenster, Türen.
„Tja, so schaut’s aus in diesem großen Kaufhaus des Westens“, sprach er zu Troller und Hutterer, kehrte sich um und lichtete – Klack! die automatische Schiebetür zu einem Autohaus ab. „All diese Türen im Herzen der Stadt“, erläuterte er, „dienen nicht mehr der Begegnung von Menschen sondern einzig dem Kundenfang. Und alle Menschen hier leben offensichtlich nur noch davon, zu kaufen und zu verkaufen.“ Sprach’ s und grinste in Hutterers laufende Kamera: „Genauso wie wir. Wir verkaufen ja Brasch!“
Solch einen Eindruck, so Troller, bekäme man wohl, wenn man sich nach den Jahren des Mangels im Osten plötzlich im Überfluss wiederfände?
„Aber in Westen herrscht doch derselbe Mangel!“, gab Thomas zurück, „er wird nur vom Warenstrom überdeckt. Jenseits der Mauer ist sichtbarer, dass etwas fehlt, und darum erscheint ein Land wie die DDR in Westeuropa so unpopulär.“
„Sie sprechen vom Mangel am Wesentlichen…?“ – „O ja, natürlich!“ – „Sie meinen, man kauft all diese Dinge weil man eines – Liebe nicht kaufen kann?“
„Liebe, auch Freundlichkeit und Vertrauen, Achtung und Lebensmut… all dies, woran es den Menschen heut fehlt, ist nicht käuflich“, sagte er, schaute sich um in der Einkaufstrasse, „aber die bessere Stereoanlage!“, fügte er an und fotografierte – Klack! Klack! – ins Schaufenster eines Rundfunkgeschäfts.

Die Männer gelangten zum Breitscheidplatz. Da hob Thomas den Blick, schaute auf zum zerbombten Turm der Gedächtniskirche und sagte, im bitteren Ton: „Germania ist von den Narben der deutschen Geschichte gezeichnet. Die alte Dame leidet so schwer an den tiefen, klaffenden Wunden des über Jahrhunderte dauernden Krieges. Dazu das Blut nach jenem ungeheueren Blutbad des Naziregimes… Bis auf den heutigen Tag ungestillt…“ Troller schwieg, starrte auf die Ruine.
„Man müsste die kranke Dame behandeln“, sprach Thomas. „Aber Germania leugnet den Schmerz. Sie benimmt sich wie eine seltsame, alternde Schauspielerin, geht in die Maske und lässt sich im Osten Schicht um Schicht Schminke auftragen. Dazu den Duft verstorbener Geister…“ – „Und bei uns im Westen?“, fragte Hutterer.
„Ach!“ Thomas blickte sich um, „da schüttet man massenhaft Geld in Germanias Wunden, worunter sich alles nur noch mehr entzündet.“
„Mal zu uns beiden“, sprach Troller zum Ende der Dreharbeiten, „ich habe den Eindruck, Sie fühlen sich vom Fernsehen ausgebeutet?“
„Nein. Allerdings geht es bei Ihnen zu wie im Restaurant: Sie sind der Kellner, die Fernsehzuschauer sind ihre Gäste, und ich bin das Schnitzel.“
Troller grinste bei dem Vergleich, und Thomas fuhr fort: „Die Frage ist, ob Sie das Schnitzel so zubereiten, dass es den Gästen auch schmeckt.“
„Sie meinen, ob es nach Schnitzel schmeckt? und Sie authentisch sind?“
„Nein, dass Geschmack dran kommt, wenn auch nur Würze.“
Ihm gehe es aber um Authentizität, verwehrte sich Troller: „Ich möchte, dass es nach Ihnen schmeckt…“
Thomas erbleichte, senkte den Blick: „So spricht der Menschenfresser!“

„Und?“ fragte ihn Katharina am Abend, „wie ist die Sache mit Troller gelaufen?“
„Weiß nicht“, Thomas zuckte die Schultern. „Ich war etwas frech zu  ihm.“
„Kommst du denn mit deiner Arbeit voran?“
„Die Fotos gehen mir gut von der Hand. Doch mit dem Dichten ist’s furchtbar. Mir scheint, ich kann nicht mehr schreiben.“
„Vielleicht ist die Sprachlosigkeit nur bezeichnend für diesen Ort, diese Zeit.“
„Tja, man sucht noch zu schreiben, zu sprechen, zu denken, wie es der Mensch seit hunderttausend Jahren gelernt hat. Und nun sieht man mit an, wie die Sprache zerfällt. Sie geht immer mehr in den Bildern der Werbe- und Fernsehwelt unter; für immer weniger Dinge gibt es noch Wörter, und alles verschwimmt, verschwindet in einer gewaltigen Bilderflut.“
Die Frau nickte, ergriff seine Hand: „Ach, Kathi!“ seufzte er da, und ein feuchter Glanz legte sich ihm auf die Augen, als er sie unverwandt ansah: „Es sind ja Dinge, die kann man nicht… kann man nicht aussprechen. Die kann man einfach… die… Dafür gibt’s keine Worte.“