Monatsgeschichte für den Monat Dezember

Trauriger Schnee

Da lag er nun. Ganz plötzlich über Nacht war er vom Himmel gefallen und hatte sich wie eine dicke weiche Decke ausgebreitet. Ganz still war er und schaute sich nur staunend um.

Bisher war er noch nie auf der Erde gewesen, und jetzt wusste er noch nicht so richtig, was er hier sollte.

„Ich muss zugeben, dass es mir hier gefällt“, dachte er, „auch diese weiße Farbe, die ich trage, finde ich wirklich elegant. Aber … was mache ich eigentlich hier? Aus welchem Grund bin ich vom Himmel gefallen?“

Er grübelte lange, aber ihm fiel nichts ein. Ein Häschen hoppelte heran. Schnell, bevor es vorbeilaufen konnte, fragte der Schnee: „Weißt Du vielleicht, warum ich hier bin?“ Missmutig erwiderte das Häschen: „Du deckst mein Futter zu, so dass ich ständig Hunger habe. Jetzt lass mich weitersuchen, damit ich wenigstens ein bisschen zu fressen finde.“

Der Schnee war ratlos: „Warum tue ich das? Wenn ich das Futter zudecke, hat das Häschen Hunger.“

Da kamen zwei Vögel angeflogen. „Hallo Ihr beiden, könnt Ihr mir eine Frage beantworten? Ich denke darüber nach, was ich eigentlich auf der Erde machen soll.“ Die beiden krächzten missgelaunt: „Was Du hier machen sollst, wissen wir auch nicht. Wenn Du hier bist, müssen wir frieren. Das können wir gar nicht leiden.“ Und schimpfend flogen sie davon.

„Kann ich denn nichts tun, was anderen hilft?“, fragte sich der Schnee betrübt. „Der eine hat Hunger, die anderen frieren – und das nur, weil ich da bin.“

Da kam die Sonne am Himmel hervor und sah die Trauer des Schnees. „Was hast Du? Was bedrückt Dich so?“ Und der Schnee erzählte der Sonne, was er erlebt hatte. „Ich suche nach dem Grund, weshalb ich auf der Erde bin. Aber alles, was ich erfahren habe, ist nicht gut.“

Die Sonne lachte: „Sei nicht traurig. Sieh Dir mal den Himmel an. Jetzt bin ich hier und er ist leuchtend blau. Und Du mit Deiner strahlenden weißen Farbe holst die Menschen aus den Häusern. Sie haben Schlitten. Damit fahren sie auf Deiner weißen Decke umher. Und sie formen große Kugeln aus Dir. Die stellen sie aufeinander und nennen sie Schneemann. Dabei sind sie immer sehr lustig.“

Das freute den Schnee. Doch irgendwann ging die Sonne unter und es kam der Mond. Jetzt waren die Menschen wieder fort.

Auch der Mond merkte, dass der Schnee bekümmert war und sprach zu ihm: „In der Nacht ist es oft so dunkel, dass man kaum etwas erkennen kann. Aber wenn ich am Himmel stehe und mein Licht aussende, schickst Du es mit Deiner weißen Decke zurück. Dadurch finden sich alle, die im Freien sind, besser zurecht. Und die Natur deckst Du zu, so dass sie Ruhe finden und sich erholen kann. Sonst wäre sie im kommenden Jahr gar nicht lebensfähig.“

Da spürte der Schnee, wie wichtig er für vieles war. Während er noch darüber nachdachte, kamen die Sterne zum Vorschein und schienen zusammen mit dem Mond. Ihre Strahlen fielen herunter bis auf den Schnee. Tausende kleiner Punkte glitzerten auf dem Weiß. „Was macht Ihr da?“, staunte der Schnee, „das ist ja zauberhaft.“

„Das bist Du, lieber Schnee“, lachten die Sterne, „diese kleinen Punkte heißen Eiskristalle. Sie funkeln wie Diamanten. Und so etwas hat nur der Schnee.“

© Martina Hörle

Diese Geschichte ist in der gerade erschienenen Anthologie „Dramatische Weihnachten“ enthalten.

Eine Anthologie mit Gedichten und Geschichten
Kay Ganahl (Hrsg.), Halina M. Sega (Hrsg.)
Paperback, 268 Seiten, ISBN-13: 978-3744886291

Monatsgeschichte für den Monat November 2017

Für unsere neue Monatsgeschichte liefert Kay Ganahl diesen satirischen Beitrag.

Eine Geschichte der Hörigkeit
Kurzprosa in satirischer Absicht
(unveröffentlicht)

Das ist ja eben diese Liebe zu Jo, diesem Monster von Mann, dem ich zur Verfügung stehe. Durch ihn erfahre ich ständig eine Entwicklung meiner Persönlichkeit, die darin besteht, dass er mich ruft und ich komme. Er lässt mich manchmal durch seinen Butler Harry, der im Maserati anfährt, später am Abend abholen, was mir so gar nicht gefällt. Unauffällig soll alles sein, unauffällig!

Heute! Ich habe mich in Schale geworfen. Wir fahren zu Jo. Dieser empfängt mich im Halbdunkel am Rande des schmutzigen Tümpels, – im Hintergrund die hohen Wipfel von Bäumen, die für die Abholzung vorgesehen sind. Blinkende Schornsteine der Großstadt und leuchtende Hochhausspitzen sind für mich weitere flüchtige Ablenkungen.

Mein Jo lässt mich sofort himmelhochjauchzen – das Alte ist fort, das Neue blickt mich in seiner umwerfenden Gestalt an!

Es steht mir ein Mann gegenüber, ein mir klar überlegenes Geschöpf, welches seine Arroganz nicht verschleiert oder versteckt, sondern ganz unmittelbar zeigt. Jos Männlichkeit bannt mich, ich gehöre …. ich gehöre ihm.

Die Primitivität seiner Lebensäußerungen kann mich immer und immer wieder davon überzeugen, dass er der Richtige ist. Keine Fragen mehr. Keine hintergründigen Reflexionen über irgendetwas, was zu klären wäre!

Oh, schön! Oh, schlecht!

 Sogar schon in meinem Alter, denke ich nun, habe ich eine wahre Beziehung zu einem Mann! Sie ist ursprünglich und dermaßen schlecht, abgründig schlecht, dass ich die absolute Liebe empfinden kann. Ist das so!?

Am Tümpel ergeben wir uns dem Ursprünglichen – Gefühlsströme reißen mich mit. Sind sie echt!?

Jo weiß, dass er mich voll und ganz in sich aufnehmen kann. Er wird es wohl auch tun.

Ich will mich verlieren. Will ich das wirklich – !?

(© Kay Ganahl, 2017)

Monatsgeschichte für den Monat Oktober 2017

In diesem Monat gibt es eine längere, spannende Geschichte von Karla J. Butterfield.

Sommer mit Raja

„Geh nach draußen spielen, Liebes, Johann muss schlafen“, sagte meine Mutter und legte das Baby in den Kinderwagen. Das Baby war mein Bruder Johann, aber ich nannte ihn „Baby“, weil er nicht wie ein Junge aussah, sondern wie eine Semmel mit Schnuller. Semmel durfte ich nicht sagen, also – Baby.

Als er noch im Mamas Bauch versteckt war, hatte man mir versprochen, dass ich einen Bruder bekomme, mit dem ich spielen kann. Eine Lüge! Mit einer Semmel kann man nicht spielen! Zu alledem hatte meine Mutter keine Zeit mehr für mich, weil sie den ganzen Tag mit dem Baby versemmelte. Diese Ferien versprachen nichts Gutes –  höchstens Langeweile.

Wütend knallte ich die Verandatür zu, was das Baby sicher zum Schreien und Mama in Rage bringen würde und radelte den holprigen Weg zum Deich, in der Hoffnung, dort jemanden zu finden, der sich mindestens so langweilte wie ich. Aber ich fand Niemanden. Auf dem Sportplatz traf ich bloß auf blöde Jungs, die nichts anderes im Kopf hatten als Fußball spielen.

Ich beschloss zum Friedhof zu fahren. Dort konnte ich mich prima gruseln. Am Ende des Friedhofs stand eine Kapelle, in deren Hinterzimmer manchmal frische Leichen aufgebahrt wurden. Ich lehnte mein Fahrrad gegen die Mauer und kletterte vorsichtig auf den Sattel, um durch das verschmutzte Fenster in die Kammer spähen zu können. Heute war keine Leiche da, aber alleine die Vorstellung, dass eine spitznasige Oma im Leichenhemd in der kalten Kammer liegen könnte, in der es womöglich vor Ratten nur so wimmelt, verursachte mir ein grusiges Kribbeln, das bei meinen Waden anfing, über die Beine und den Rücken bis zum Kopf wanderte.

„Was tust du denn da?“, fragte eine Stimme hinter mir und ich erschrak dermaßen, dass ich samt Rad auf den Weg stürzte und mir gewaltig das Knie aufschlug. Ein Blutstropfen rollte mein Schienbein hinunter und verfing sich in meiner weißen Socke. Als ich aufblickte, sah ich ein Paar dreckige nackte Füße. Zu den Füßen gehörte ein Mädchen mit dem schwärzesten und dicksten Haar, das ich je gesehen hatte.

„Was tust du denn da?“, wiederholte sie die Frage.

Aber ich antwortete nicht. Ich starrte sie nur mit offenen Mund an. Nicht nur ihr Haar war schwarz, auch ihre Augen und die Haut glänzten kupfern. Sie steckte in einem viel zu großen schmuddeligen Sommerkleid, das in der Mitte mit einem glitzernden Tuch zusammengehalten wurde, dessen Saum zur Hälfte aufgetrennt war.

„Hier, iss, das ist gut gegen die Schmerzen.“, sagte sie im Befehlston und hielt mir eine Hand voll saftiger Kirschen entgegen. Ich aß ohne Widerspruch. Die Kirschen waren süß und tatsächlich, ich vergaß mein Knie.

Als ich den letzten Stein ausspuckte, fand ich meine Sprache wieder.

“Wie heißt du?“

„Raja. Und du?“

„Sonja.“

„Wie alt bist du?“

„Acht, und du?“

„Zehn. Hast du Lust, baden zu gehen?“

„Ich darf nicht alleine.“

“Wer sagt das?“

„Meine Mutter.“

„Na dann. Komm mit. Ich bade, und du schaust zu. Das ist doch erlaubt, oder?“

Sie schnappte sich mein Fahrrad und zeigte auf den Träger.

„Setz dich, ich fahre.“

Am Teich war keiner, nur ein Paar Enten und durstige Mücken. Raja ließ das Fahrrad fallen, löste die Schärpe und zog ihr Kleid über den Kopf aus. Ich traute meinen Augen nicht. Sie hatte unter dem Kleid nichts an. Nicht einmal eine Unterhose!

Aber das schien sie überhaupt nicht zu stören. Kreischend stürzte sie sich ins Wasser und paddelte herum wie ein junger Hund. „Super warm, komm Sonja, komm auch.“

Ich schüttelte den Kopf, saß bloß mit angezogenen Knien neben meinem Fahrrad und bekam den Mund nicht zu.

„Schau, ich kann Handstand!“

Rajas Kopf verschwand unter Wasser und zwei Beine zappelten in der Luft. Ich musste lachen.

„Komm Feigling. Es ist prima“, rief Raja erneut und spritzte mit Wasser herum.

Ich schaute mich um und sah niemanden. Mir war heiß, und Raja sah so erfrischt aus. Es gab wirklich keinen Grund, warum ich nicht auch ins Wasser sollte. Natürlich behielt ich meine Unterhose an. Das war schon eine Leistung, denn ohne einen Badeanzug wäre ich sonst nie ins Wasser gegangen.

Raja konnte zwar alle möglichen Kunststücke wie Handstand oder mit offenen Augen tauchen, aber sie konnte nicht schwimmen. Das konnte wiederum ich. So verbrachten wir den Nachmittag damit, uns gegenseitig alles beizubringen.

Als wir genug vom Baden hatten, spendierte mir Raja weitere Kirschen, die sie unterwegs aus einem Garten stibitzte. Ich weiß nicht warum, aber diese Kirschen schmeckten tausendmal besser als die, die wir zu Hause in der Schüssel hatten. Die Kirchuhr schlug sieben und ich erschrak.

„Es ist spät, ich muss nach Hause!“

„Ich komme mit“, bot sich Raja an, aber plötzlich hielt sie inne. „Deine Haare!“

„Was?“

„Deine Haare sind ganz nass! Willst du deiner Mutter erzählen, es hätte geregnet?“

Ich erschrak zum zweiten Mal. Was tun? „Die Strafe folgt auf dem Fuß“, sagte meine Oma immer. Sie hatte Recht. Aber Raja hatte eine Idee. Wir schlichen uns in den Hinterhof einer Pommes Bude, Raja machte die Räuberleiter, ich kletterte darauf und neigte meinen Kopf direkt an das Entlüftungsrohr, aus dem  warme Luft herausquoll. In kurzer Zeit war mein Haar trocken. Wenn auch meine Mutter am Abend die Nase rümpfte und sich wunderte, warum es bei uns nach Gebratenem roch, obwohl es zum Abendbrot bloß Milchreis gab.

Als ich später in meinem Bett lag, wusste ich, in diesem Sommer wird es jede Menge süße Kirschen geben.

In den folgenden Tagen gingen wir natürlich weiterhin verboten baden, und wenn es regnete, spielten wir Karten auf der Veranda. Meine Mutter beäugte Raja mit Misstrauen und versteckte ihre Geldbörse im Schlafzimmer, wenn sie bei uns war.

„Diese Leute klauen und haben Läuse. Nimm dich in Acht vor ihr.“ Aber sie ließ mich gewähren, denn sie konnte keine nörgelnde Göre um sich ertragen. Sie sah sehr müde aus.

Jeden Tag schleppte Raja alle möglichen Sachen an. Vogelbeeren, die wir im Schuppen trockneten, sie dann an Schnüren aufzogen und um den Hals trugen. Aus Zweigen und Moss bauten wir kleine Behausungen für Schnecken, fingen Mäuse mit Speck und bauten sogar eine Vogelscheuche, die wir dann dem Bauern schenkten und dafür jede einen Stück Apfelkuchen bekamen.

Im Wald sammelten wir Heidelbeeren und verkauften sie dann im Ort für zwei Kronen der Liter. Wir haben uns ausgemalt, was wir mit dem großen Geld tun würden. Aber wer schon mal Heidelbeeren gepflückt hatte, der weiß, wie lange es dauert, bis eine Kanne voll ist. Also ließen wir es sein.

Im Schilf des Teiches gab es unzählige Frösche, die wir in einem Eimer sammelten und wenn sich die Wasseroberfläche mit Laich füllte, ließen wir sie wieder laufen und warteten auf Nachwuchs.

Raja meinte, wenn sie groß sei, wird sie entweder Tänzerin im Zirkus werden oder Ärztin. Obwohl sie gleichzeitig schwor, dass sei noch nie in der Schule gewesen sei. Aber Wissen konnte man sich auch selber aneignen, versicherte sie mir. Um mir dies zu demonstrieren, entschied sie sich im Dienste der Wissenschaft, einen der Frösche, die im Eimer hockten, zu sezieren. Ein Onkel von Raja, der eine Zeitlang in Italien lebte, hatte ihr von dem Maler und Bildhauer Michelangelo erzählt, der im Mittelalter auch Leichen sezierte, um den Organismus besser kennen zu lernen. Dem eiferte Raja nach. Sie nagelte die Beine des armen Frosches an ein flaches Stück Holz und schnitt ihm mit dem Küchenmesser den Bauch auf. Das Innere des Bauches wurde sichtbar. Eine Landschaft aus Glibber, dünnen Schläuchen und pochendem Herzen eröffnete sich uns. Eigentlich hätte es mir schlecht werden sollen, aber ich starrte gebannt auf die blaugrauen Wunder der Natur. Im letzten Todeskampf zuckte der Frosch noch mit einem seiner Beinchen, das sich vom Nagel riss und wie ein Gummiband zurücksprang. Ich schrie und rannte davon. Als Rajas anatomischer Wissensdurst gestillt war, befreite sie den Frosch, und wir bereiteten ihm ein richtiges Begräbnis mit Grab, Blumen, Gesang und dem ganzen Pomp.

Raja war nie in der Schule, aber sie wusste Einiges: dass Kirschen Schmerzen lindern, dass am Nordpol die Polen wohnen und dass, wenn man sich die Erbsen unter das Hemd oder in die Socken stopft und es kitzelt, daraus Kichererbsen werden.

An einem Morgen hatte mich Raja mit einem Pferd abgeholt.

„Woher hast du das Pferd?“

„Von meinem Onkel. Heute ist mein Geburtstag, da darf ich es immer reiten.“

„Dein Geburtstag? Bist du jetzt elf geworden?“

„Nein 10, immer noch. Steig auf!“

Sie ließ mich vor ihr sitzen, behielt aber die Zügel in der Hand. Das Pferd hatte einen Rücken breit wie ein Esstisch und bewegte sich nur langsam. Aber so hoch zu sitzen, machte einen glücklich. Wir ritten durchs Dorf wie zwei Prinzessinnen.

Am Ortsrand kamen wir zu einer verlassenen Kaserne und einem Übungsplatz. Hier standen im Kreis mehrere alte Wohnwagen, die mit Wäscheleinen verbunden waren, an denen bunte Wäschestücke flatterten. Vor einem der Wagen saß auf einem Klappstuhl ein sehr dunkler Mann mit Pomade im Haar. Als er uns kommen sah, verzog sich sein Mund zu einem breiten Lächeln und entblößte drei prächtige Goldzähne.

„Ah, das deine Freundin!“, rief er und half mir vom Pferd herunter.

Er streckte mir die Hand entgegen: „Mirko, ich bin Papa.“

Ich machte einen Knicks wie vor einem Baron und schaute mich um. Außer ein paar streunenden Hunden war niemand zu sehen.

„Wo sind deine Geburtstagsgeschenke?“, fragte ich neugierig.

„Ah, hat sie heut wieder Geburtstag?“ Eine Frau mit schwarzem Kopftuch steckte den Kopf durch einen Perlenvorhang und schaute mürrisch zu mir hinüber.

„Von wegen Geburtstag, den hat die Göre mindestens zweimal pro Monat, nur damit sie den Gaul reiten kann!“

Verständnislos schaute ich zu Raja und dann wieder zu der Frau, der im Gegensatz zu Mirko drei Zähne fehlten.

„Hast du denn kein Geburtstag heute?“

Raja schwieg und betrachtete verbissen ihre Füße.

„Wir nicht wissen, wann Geburtstag. Irgendwann im Winter. Aber egal, heute Geburtstag, wird gefeiert!“ Mirko steckte sich zwei Finger in den Mund und pfiff so laut, dass das Pferd scheute.

Im Nu war der Platz voll mit Menschen, die farbige Kleider trugen. Die Männer hatten  Hüte auf dem Kopf, die Kinder waren alle barfuß und alle schauten mich neugierig an. Erst als Raja mich jedem Einzelnen vorgestellt hatte, die allesamt ihre Onkel und Tanten waren, schlug ihr Misstrauen wie ein Pendel zu einer Herzlichkeit um, die ich nicht kannte. Langsam verstand ich, dass Mirko Rajas Vater, Marina, die Frau mit dem schwarzen Kopftuch, ihre Stiefmutter war und Sira ihre Halbschwester. Sira war ungefähr sechzehn und die Schönste von allen. Sie war besonders hübsch angezogen. So wie die Frau Carmen, die ich mal in der Oper gesehen hatte.

Alle brachten ihre Stühle und Tische nach draußen. Auch Essen und Trinken und einen wackeligen Samtsessel für den Opa Omir, der bestimmt hundert Jahre alt war und an einer langen Pfeife lutschte. Es gab Musik, eine Geige, Mandoline und andere Instrumente, die ich nicht kannte. Die Männer tanzten, und die Frauen sangen in einer fremden Sprache. Es wurde auch viel getrunken. Ich dachte zuerst, es wäre Wasser, denn es wurde in hohen Gläsern serviert. Aber es roch nach Pflaumen, und als ich es probierte, brannte meine Zunge wie Feuer.

Raja bekam zwar keine Geburtstagsgeschenke und auch keinen Kuchen, aber sie wurde gefeiert wie eine Prinzessin. Die Mädchen schmückten ihre Haare mit Blumen, sie wurde herum getragen und die Männer prosteten ihr zu. Dann tanzten sie und Sira einen wilden Tanz ums Feuer herum, drehten Tücher in der Luft, deren kleine angenähte Münzen wie Glöckchen schellten.

„Du bist meine beste Freundin“, sagte ich zu Raja, als sie mich später nach Hause begleitet hatte. „Ich bin nicht deine Freundin…Ich bin deine Schwester“, sagte sie und umarmte mich ganz fest. Aber bevor wir unsere Blutsbrüderschaft besiegeln konnten, kam das Unglück mit dem Tag der Eröffnung des neuen Supermarktes im Dorf.

Seit dem frühen Morgen lungerten wir vor dem mit Glücksankündigungen beklebten Eingang herum. Überall hingen Luftballons, es gab eine Tombola und allerlei Leckerbissen zum Kosten. An einem Ständer baumelten im Wind Schwimmringe, aufblasbare Tiere und Luftmatratzen. „Schau, Raja, die Luftmatratzen! Mit denen könnten wir bis zur Insel paddeln und Robinson Crusoe spielen.“ Ich war stolz auf meine Idee. Sonst hatte Raja immer die besten auf Lager.

Diese Luftmatratzen waren leicht und durchsichtig. Bisher kannte ich nur die schweren aus gummiertem Stoff. In der Mitte des Kopfteils war ein Kreis, durch den man die Unterwasserwelt betrachten konnte.

Raja war auch sofort Feuer und Flamme: „Die sind superleicht, mit denen kommt man bestimmt schnell voran. Lass uns mal hineingehen und schauen, was die kosten.“

Im Laden wimmelte es von Menschen, als gäbe es etwas umsonst. Die Badeabteilung befand sich im Erdgeschoss.

„Wieviel hast du?“, fragte Raja.

„Drei Kronen und du?“

„Zwei fünfzig, das reicht nicht mal für den Stöpsel.“

„Oh, schau, wie klein sie verpackt sind. Die kann man gut am Fahrradträger befestigen!“, schwärmte ich.

„Nimmst du rot oder grün?“

„Rot, natürlich!“

„Mir gefällt die gestreifte am besten.“

Verträumt betrachteten wir die Objekte unserer Begierde.

Raja nahm ein Paket in die Hand, schaute sich um und ließ es blitzschnell unter ihrem Rock verschwinden.

„Mach schnell, keiner schaut zu.“

Ich verstand sofort und steckte das zweite Paket unter mein T-Shirt.

An der Kasse schnappten wir uns eine Packung Kaugummis, bezahlten eine Krone und rannten kichernd aus dem Laden heraus.

Wir hielten erst in einer Seitenstraße, setzten uns auf die Stufen eines Hauseingangs und schnappten nach Luft. Dann klatschten wie siegreich unsere Hände gegeneinander, holten unser Diebesgut heraus und wollten es gerade auspacken, als uns ein Schatten bedeckte. Mir fiel das Herz in die Unterhose und als ich aufschaute, sah ich einen Mann im dunklen Anzug breitbeinig vor uns stehen.

„So, Mädels, Ihr kommt jetzt erst mal mit!“

Raja versuchte zu flüchten, aber der Mann hielt sie fest. Mir schlotterten die Knie, ich hätte nicht weglaufen können.

Er nahm uns fest am Oberarm und zerrte uns zurück zum Laden ins Büro.

„Jetzt ruf ich die Polizei“, sagte er mit einem strengen Blick zu uns und nahm den Hörer in die Hand. Es war, als stünde die Polizei direkt hinter der Tür bereit. Ich konnte gerade Raja einen kurzen Blick zuwerfen, da kamen zwei Polizisten in Uniform, eine Frau und ein Mann, hineingestürzt. Das, was folgte, war das Schlimmste, was ich je erlebt hatte.

Wir wurden befragt, nach unseren Namen, Alter, Adresse, Schule, nach unseren Eltern sowie ihren Arbeitsstellen.

„Wo habt Ihr das restliche Diebesgut?“, fragte der Polizist.

Wir zuckten zusammen.

„Wir haben nichts mehr“, stotterte ich.

„Das sagen alle. Wo ist es?“

„In der Unterhose“, witzelte Raja. Ihre Augen funkelten wild.

„Lass die Frechheiten!“, blaffte der Polizist zurück und gab der Polizistin ein Zeichen. Danach verschwand er und wir wurden von der Frau gründlich durchsucht. Ich hatte das Gefühl, dass sie, nachdem sie nichts gefunden hatte, noch wütender war als zuvor. An ihre kalten Finger erinnere ich mich noch heute.

Vor den Augen des gesamten Dorfs wurden wir in ein Polizeiauto verfrachtet und nach Hause gefahren. Zuerst ich, Raja wartete im Auto, solange sie mit meiner Mutter sprachen. Ich verdrückte mich in mein Zimmer.

Eine Woche Hausarrest und strenge Blicke meiner Mutter. Das war meine Strafe.

Am dritten Tag hielt ich es nicht mehr aus, wartete, bis alle schliefen und schlich mich aus dem Haus. Raja fand ich hinter dem Wohnwagen am Boden sitzend.

„Raja“, flüsterte ich glücklich.

Sie antwortete nicht, dann hob sie langsam den Kopf, und ich sah ihr geschwollenes Gesicht. Das Auge blau, die Lippe  geplatzt, an den Wangen verkrustetes Blut.

„Verschwinde!“

„Aber Raja…“

„Verschwinde, er hat ein Messer! Geh weg! Sofort!“

Als ich mich nicht rührte, erhob sie sich und verschwand hinter der Ecke des Wohnwagens.

Am Ende meiner Strafwoche setzte sich abends meine Mutter zu mir ans Bett.

„Das war nicht schön, Sonja. Versprich mir, du wirst es nie wieder tun.“ Ich nickte und obwohl ich es mir verkneifen wollte, fing ich an zu weinen. Mama nahm mich in den Arm und küsste meine Haare.

„So etwas kann jedem passieren. Du musst wissen, ich liebe dich, egal, was du tust.“

Sie brachte mir noch Kakao ans Bett und las mir eine Geschichte vor.

Am nächsten Morgen hörte ich meine Eltern beim Frühstückstisch leise sprechen.

„Sie wurde zusammengeschlagen, und nun kam die Fürsorge und hat sie weggebracht.“

Ich wusste sofort über wen sie sprachen.

© Karla J. Butterfield

 

Monatsgeschichte für den Monat September 2017

In diesem Monat gibt es zwei kleine Gedichte von Beate Kunisch.

 

 

 

 

Hoffnung

Morgenröte Hoffnung schenkt
Dass sie das Schicksal zum Guten lenkt
Zufälle wie Zeichen scheinen
Man daher bald könnte meinen
Zu erkennen die richtige Wahl
Aus der Möglichkeitenqual
Hoffnung, Aufbruch, Wendepunkt
Angst vor Neuem, Stille
Achtsam sein, Empfindlichkeit
Sich auf den Sprung konzentrieren
Was gestern war, wirkt heute weiter
Trotzdem bin ich morgen heiter
Alles, was ich hab gesehen
Kann nicht mehr werden ungeschehen
Gelitten, geschunden, verletzt
Hüpfe ich lachend davon

© Beate Kunisch

Das Leben

Schön und hässlich
Schnell und langsam
Farblos und bunt
Gestern schien es anders
Als heute
Ich möchte es zähmen
Es läuft mir davon
Lässt sich nicht aufhalten
Geht seinen Weg
Unerbittlich, unermüdlich
Bis zum Ende
Bis dahin
Nimm mich mit
Auf die Reise
Durch die Erkenntnis
Des Lebens
Auch
Wenn ich dann
Nichts verstehen werde

© Beate Kunisch

Monatsgeschichte für den Monat August 2017

Eberhard
Eine Kurzgeschichte von Andreas Erdmann

Eberhard sprang von der Feuerleiter. Er sprang oder– nein, neinein, er sprang nicht. Er schwang nach vorne und schwankte und wankte gefährlich, schwenkte herum und hangelte sich zwei- vier, fünf weitere Sprossen empor.

– Eberhard!? riefst du hinauf.

– Lass mich in Ruhe! rief er herunter.

– Eberhard, bitte, steig von der Leiter! tratest du vor, griffst nach dem Handlauf und setztest den Fuß auf die unterste Sprosse.

– Heee! schrie der Junge von oben herab: Bleib, wo du bist! Oder ich springe– ich spring auf der Stelle!

Da hieltest du inne. Und er stieg weiter, er stieg und stieg, erstieg Sprosse um Sprosse, bewegte sich höher und höher über dem Schulhof und über den Häuptern der hier versammelten, völlig entsetzten Schüler und Lehrer.

Eberhard also. Der dicke Eberhard, von dem es im Unterricht immer geheißen hatte, dass er nichts begreife. Nichts könne. Nichts sei. Nichts. Nichts weiter als nur ein Dummkopf. Der dumme Eberhard also, der stieg an diesem Morgen am Schulgebäude hinauf, gelangte bald über die Regenrinne und über die Dachkante hinaus – und er stieg bis zum Ende der Leiter vor, die in luftiger Höhe über dem Dach in einen tiefblauen Himmel aufragte. Dort erst, am äußersten Ende der Leiter kam er zum Stehen. Dort stand er: hoch droben, im flimmernden Licht einer flammenden Sonne, die eben über der Schule aufstrahlte. Droben stand Eberhard, über der Sonne – über dem gleißenden Stern.

– Eberhard, neeein! riefst du mit gellender Stimme.

– Eberhard Hermanns! rief hinter dir, in deinem Rücken lauthals der Direktor der Schule: Spring nicht da runter! Denn- sieh einmal, wenn du springst, bringst du unser Gymnasium in Verruf!

– Und- hör mal! tönte der Klassenlehrer: Wenn du die Leiter vorsichtig wieder heruntersteigst, helfen wir dir und finden für dich sicherlich, sicher noch einen Ausweg.

– Aber ja- jaja, dann wollen wir dein Fünferl im Sport vergessen, fügte der Sportlehrer hinzu, und du bekommst, dies verspreche ich dir, auf deinem Zeugnis ein Viererl von mir – und bleibst nicht sitzen und musst das Schuljahr nicht wiederholen.

– Und wir können uns den Blauen Brief an deine Eltern ersparen! heischte die Sekretärin der Schule dazwischen. Und Schulkameraden beschwichtigten: Also, freue dich, Eberhard, freue dich!

– Aber nein, ich freue mich nicht! rief der Junge zurück. Und ein Raunen ging durch die Menge, als er sich ruckartig reckte und einen Arm über dem Schulhof ausstreckte. Unbewegt stand er da, bevor er mit seiner Rede anhob: O ihr Lehrer und Schüler! erschallte jetzt seine Stimme hoch oben, in luftiger Höhe dort droben zwischen Himmel und Erde: Seht nur, es macht ja gar keinen Unterschied, ob ich springe oder nicht. Denn ich– ich bin doch schon lange tot. Ja, ich bin tot. Ich lebe nicht, lebe nicht wirklich. Habe seit Jahren, seit wie vielen Jahren nicht wirklich gelebt. Tja, früher als kleines Kind, bevor ich diese Schule besuchte, da fühlte ich mich lebendig und hatte wohl meine Freude am Leben. Aber dann– irgendwann– nach der Einschulung starb ich nurmehr vor mich hin. Ich vegetierte nur noch nach dem Stundenplan und fiel Tag für Tag eurem Lehrplan zum Opfer, Woche für Woche und Jahr um Jahr eurem tödlichen Trott. So starb ich in meiner Schulbank dahin, ich starb still und stumm – und starb mitten unter euch, ohne dass ihr es jemals bemerktet. Seitdem bin ich tot. Unwiderruflich tot, tot. Tot.

Menschenskind! war daraufhin der Direktor der Schule zu hören: Was willst du denn nur?!

– Willst du ein paar Tage schulfrei!? brüllte der Klassenlehrer.

– Du möchtest doch sicher ein Viererl im Sport?

– Oder ein Dreierl, ein Dreierl in Biologie!?

– O nein, ich will leben! so schrie der Junge vom Ende der Leiter: Leben will ich, nur leeeben! schrie er: Leeeeeben!!! erschallte weithin das Echo, und Eberhard warf seine Arme zum Himmel, schwang sich nach vorne und sprang.

Monatsgeschichte für den Monat Juli 2017

Der Anfang

Da stand er nun, ganz allein – vollkommen verloren auf dem riesigen Blatt. Ein klitzekleiner Buchstabe im unendlichen Weiß des Papiers.

Was sollte er hier? War vielleicht noch jemand da? Er versuchte zu rufen: „Sssssssssssssss:“

Seine Stimme war sehr leise. Doch er versuchte es erneut. Was sollte er auch sonst tun? „Sssssssssssssss.“ Immer wieder: „Ssssssssssssss.“

Da passierte es. „Rrrrrrrrrrrr.“ „Iiiiiiiiiii.“ „Lllllllll.“ „Aaaaaaaaaaaaa.“ Überall tauchten Zeichen auf, große, kleine, dicke, runde, eckige – wie Fliegendreck sahen sie aus. Winzig, aber in ihrer Menge einem Meer gleich. Das Papier war nicht mehr so weiß.

Alle liefen unruhig hin und her, blieben stehen, verschwanden, rannten nach links, dann wieder nach rechts, drehten sich um die eigene Achse und murmeln pausenlos vor sich hin: „Sss, aaa, lll, iii, eee, rrr.“ Zischende Laute, Gebrabbel. Manche taten sich zusammen: „Sal, ima, wes, rea“ – Fragmente, sinnlose Wortgebilde.

Wieder und wieder gruppierten sie sich neu, und es wurden immer mehr. Ein Ozean an Fliegendreck. Lange dauerte es, aber irgendwann brachten sie einzelne Wörter zustande, wurden verständlicher. Überall waren sie, riefen, lachten, fragten, flüsterten.

Satzzeichen kamen dazu, hier ein Komma. Da ein zweites, ein Punkt. Noch ein Punkt, noch einer und noch einer. Eine Unmenge von Punkten formierte sich zu einer Linie. Ein Komma drängelte, wollte an den Anfang und tat sich dort mit einem anderen Komma zusammen. Nun forderten auch die Buchstaben ihren Platz.

Zuerst schaffte es das „E“. Es stand direkt hinter den zwei Kommas. Blähte sich stolz auf und wurde groß. Jetzt ging es Schlag auf Schlag. A, I, M, L, E und wie sie alle hießen, schubsten, drängelten, purzelten vor Eifer über- und untereinander, die Punkte eilig hinterher.

Ein Chaos ohnegleichen. Doch plötzlich – atemlose Stille. Da standen sie, geformt zu einem der schönsten Sätze, mit denen ein Märchen beginnt:

„Es war einmal…“

(aus dem Buch „Zeitgedanken von Martina Hörle und Andreas Erdmann.
Urheberrecht und Copyright für alle Texte: Martina Hörle)

Monatsgeschichte für den Juni 2017

Meine Ginger

Was sie noch zu sagen hätte … ich stand vor dem großen Antik-Spiegel und kontrollierte den Sitz meiner blau-weißen Krawatte, als Ginger von hinten rechts auf mich zukam. Sie gab mir einen Klaps auf den Allerwertesten, so dass ich gegen den Spiegel prallte, welcher in viele kleine Scherben zersprang.

„Geht’s noch?“ schrie ich sie so laut an, dass sie eingeschüchtert zurücktrat – durch ihr Gesicht, sonst starr wie eine Maske, huschte ein bisschen Furcht. Sie antwortete nicht, sondern drehte sich gleich um, rannte ins Wohnzimmer und warf sich auf die rote Ledercouch. Dann sang sie die Internationale, dieses Lied der Kommunisten, was ich schon immer so komisch und dumm fand. Sie sang dieses Lied dermaßen laut, dass ich, der ich einmal zu dieser politischen Gruppe gehört hatte, die Ohren mit Papiertaschentüchern zustopfte. Ich rannte in die Küche, in der wie meistens Unordnung herrschte, um mit einem der probaten langen Messer im Wohnzimmer auf meine „alte Liebe“ zu treffen, die sich mittlerweile auf der braunen Ledercouch wie eine lange, rote Weihnachtskerze ausstreckte.

„Ich bin jedenfalls nicht mehr so ein Politiot … aber bei Dir hält sich dieses Gedankengut immer noch, kapierst Du das nicht?!“ tönte Ginger, die mich auch noch hämisch angrinste. Natürlich kochte ich vor Wut, am liebsten hätte ich sie jetzt abgestochen, auch zu gern tot geprügelt, aber ich hatte prinzipiell jeder Gewalt abgeschworen. Der große Mahatma hatte mich voll im Griff. Mit diesem Messer in der Hand kam ich mir daher äußerst selbstverräterisch vor! Die Zeit meiner terroristischen Aktivitäten war längst vorüber. Gewalt geschah seit vielen Jahren lediglich im Rahmen von Computerspielen in meinem Kopf.

„Ich werde …!“ drohte ich, doch Ginger schloss die Augen und summte nun die Internationale.

„Du wirst gar nichts, Du Memme!“

„Wenn Du so weiter provozierst, werde ich bestimmt noch …!“ entgegnete ich Ginger. Sie lachte. Und lachte.

Ich rannte zu dem zersprungenen Spiegel. Dann sammelte ich einige Scherben, um sie gleich danach Ginger auf den Bauch zu werfen. Die ach so feine, immer wieder feist klügelnde mittelalterliche Dame schoss auf. Sie trat mir in den Unterleib. Als ich in die Knie gegangen war, trat sie mir von hinten in den Rücken, so dass ich vornüber auf den Teppichboden knallte.

„Spinnst Du, … Irr … rre!?“ entfuhr es mir im Schmerz.

„Ja!“ entgegnete sie. Ginger war wieder „Herrin“ der Lage. Ihre Arroganz mir gegenüber kannte keine Grenzen.

Längst bestand unsere Beziehung hauptsächlich aus Spielen der Macht – bis zur Unterwerfung des einen unter den anderen. Meist war ich ihr Opfer!

© Kay Ganahl

Veröffentlicht in „Wurzel“, Selbstverlag 2016, PDF auf CD-Rom

Monatsgeschichte für den Mai 2017

Das Glück

Eines Tages beschloss das Glück, in die weite Welt zu gehen. Es wollte viele Menschen treffen, ihnen einen Wunsch erfüllen und sie glücklich machen. So wanderte es frohgemut seines Weges.

Zuerst begegnete ihm ein reicher Kaufmann. Das Glück fragte: „Hast Du einen Wunsch? Ich möchte Dir etwas geben, damit Du glücklich bist.“ Der Kaufmann überlegte nicht lange. „Ich wünsche mir viel Geld. Denn Geld macht mich glücklich.“

Das Glück war überrascht. Es hatte mit anderem gerechnet. Aber versprochen war versprochen. Ein Mensch war also glücklich, wenn er Geld hatte. Nachdenklich ging es weiter und kam an einem Feld vorbei, auf dem ein Bauer gerade schwere Säcke trug.

„Ach, hätte ich Pferd und Karren, das wäre ein Glück. Dann fiele mir die Arbeit nicht so schwer!“ Auch ihm erfüllte das Glück seinen Wunsch. Ein Mensch war also glücklich, wenn seine Arbeit leicht war.

Auf seinem Weg traf es einen Schäfer, eine Marktfrau, einen Schuster und viele andere. Und jeder wünschte sich eigenartige Dinge zu seinem Glück: ein Haus, eine Halskette, eine Herde, Mägde und Knechte. Es gab so vieles, was die Menschen wollten. Das Glück gab und gab. Und immerzu dachte es darüber nach, was die Menschen für Glück hielten.

Irgendwann verlor es die Gabe, zu schenken. Und darum ist heute jeder Mensch selbst seines Glückes Schmid.

© Martina Hörle

Monatsgeschichte für den April 2017

In diesem Monat gibt es zwei kleine Gedichte von Saga Grünwald.

 

 

 

 

Grünes Tuch

Frühling ist ein grünes Tuch

zieht sich über unsre Erde

tüpfelt es mit Farbenspiel

Sonnenschatten, Blumen viel

atmen süße Honigdüfte

vergessen ist des Frostes Spiel

Grünes Tuch liegt auf den Bäumen

kleidet sie in Blütenträume

Vögel singen Freudenlieder

Schmetterlinge kehren wieder

Neues Leben, ja, es werde!

© Saga Grünwald

 

Das Rad

Eben noch sangen die Vögel zum Morgen

in den Wipfeln, doch schon weicht das Glück

den bitteren Stunden, zehrenden Sorgen

von Efeu gefesselt der Blick

Ein Lachen, ein Kichern, ein Singen

flügelt mit lichten Schwingen

erstes stummes Befreien

Hallo! Ich suche das Glück

zur Geste gewordenes Schreien

erstarrt, und leis kehrt zurück

des Lebens sanftes Verzeihen

© Saga Grünwald

 

Monatsgeschichte für den Februar 2017

„Schmetterlinge“

Mittlerweile war es kaum noch erträglich. Aus einem schönen, angenehmen Sommer war etwas ganz anderes geworden … die Tier- und Pflanzenwelt nahm Schaden; auch die Schmetterlinge hatten sich verzogen, Herzblätter segelten vorerst nicht mehr von den Bäumen. Alle netten Menschen schienen ausgeflogen zu sein – Augustine nahm an, dass sie nicht weit entfernt sein konnten, denn sie brauchten ja nach wie vor ein Heim. Sie wollte aber erst einmal allein inmitten der sich vor ihren Augen und Ohren verändernden Umwelt bleiben. Der Grund für diese Veränderungen war für sie ein Rätsel. Das drängende Außen des überraschenden Veränderungsprozesses zwang Augustine zum längeren Warten, denn sie musste warten, um Zeit für das Sammeln von Kenntnissen und Erkenntnissen verwenden zu können. Das freute sie.

Bevor das offenkundige und endgültige Scheitern der Natur eintrat, musste sie auch noch bei sich – in ihrem Innen – aufräumen, Gedanken finden und speichern. Holla! Gedanken! Hatte sie die denn überhaupt noch angesichts dieses ungeheuerlichen Veränderungsprozesses? All dies Neue war höchst ungewöhnlich, doch sie nahm es als wichtigste Erfahrung ihres Lebens und akzeptierte es voll.

Warum auch nicht  –  ging es doch um sehr viel?!

Oftmals blickte Augustine morgens nach der Toilette zunächst gedankenverloren aus dem Fenster vor dem Frühstückstisch in die hoffnungsfroh-bedrückende Weite dessen, was sich kurz vorher, nach dem Öffnen des Vorhangs und dem Zur-Seite-Schieben einer gelben Gardine  wieder mal unerwartet für sie aufgetan hatte.

Im Internet hatte Augustine zahlreiche Ankündigungen böser Menschlein gelesen, die nicht umhin kamen, sich weltweit für oder gegen etwas mit politischen Sprach-Attacken und Videos einzusetzen, was Augustine nicht besonders gut gefiel.

In einem der vielen Spiegel im Frühstücksraum ihrer Villa am Fuße des Berges Kakal erkannte Augustine nunmehr zu ihrem Erstaunen, dass es hier, vor Ort, noch eine gute Zeit für sie geben konnte. Sie gedachte all des Vergangenen ihres eigenen Lebens in vielen Einzelheiten, es marschierte nun bildhaft vor ihr auf.

Endlich wollte sie wieder ganz in Ruhe an ihrer Dissertation zum Thema „Welten-Verbund“ weiterarbeiten, zu diesem Zweck innerlich aufrüsten –   sich gedanklich und auch gefühlsmäßig fangen.

Keineswegs wollte sie resignieren, schon gar nicht angesichts der Gesamtlage aufgeben. Denn das Gefühl der Sehnsucht hatte sie gepackt. Eine solches, das den einzelnen Menschen bannt, fesselt und in eine andere, schönere Welt entführt. Die Erfüllung in liebender Gegenseitigkeit erhoffte sie für sich, für alle Menschen, womit sie nicht alleine stand, doch man konnte sich in diesen Wochen und Monaten nicht leicht organisieren …

Immer noch dachte sie an das Vergangene, sehr konkret Gewesene. Die sie neuerdings erfüllende Sehnsucht war gespeist aus Hoffnung. Vieles musste noch geklärt werden, doch schien nichts unmöglich zu sein.

Aus dem Buch von Kay Ganahl: „Fußangeln, Grenzpfähle und Fallgruben. Kurze Prosa“, veröffentlicht im Grille Verlag, 2013. Alle Rechte vorbehalten.